Warum Eichstätt die wenigsten Arbeitslosen hat

(Die Welt)

Nirgendwo ist die Arbeitslosigkeit so niedrig wie im oberbayerischen Landkreis Eichstätt. Zwei Prozent sind es aktuell. Für Stellenangebote interessiert sich kaum noch jemand. Für die vor Ort ansässigen Unternehmen schafft das ganze eigene Probleme.


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Wer hier wohnt, muss sich um Arbeit nicht sorgen. Und idyllisch ist es auch: Der Willibaldsbrunnen auf dem Marktplatz in Eichstätt

Eine treffende Anekdote aus dem oberbayerischen Landkreis Eichstätt geht so: Ein riesiger Lichtkegel strahlt in die Winternacht über dem Altmühltal. Jugendliche aus den umliegenden Dörfern vermuten die Eröffnung einer Großdisco, zumindest ein spaßiges Event. Sie springen in ihre aufgemotzten A3-Audis und fahren los. Doch am Ziel stehen sie vor den Werkstoren des Eichstätter Osram-Werks, das hier Halogenlampen modernster Bauart produziert. Das Licht ist ein PR-Gag. Eine Firma feiert ihren Erfolg. Es gibt neue Arbeitsplätze. Also nichts Besonderes.

Katholisch bis unter die Pflastersteine, angeblich kleinste Universitätsstadt der Welt, Barockidylle und Provinzkaff. Eichstätt ist kein wirklich cooler Ort. Auf dem Brunnen des Marktplatzes, zwischen Rathaus und Café Paradies, segnet der Stadtheilige St.Willibald (700-778), grün patiniert, die Geschäfte der Stadt. Auf den Straßen lüften die älteren Herren selbst bei Fremden die Schiebermütze zum Gruß. In der Studentenkneipe "Trompete" diskutieren Theologiestudenten mit Gesundheitsschuhen immer noch die letzte Papstwahl und ob Frauen für das Priesteramt taugen.

Am Stammtisch des gutbürgerlichen Restaurants "Krone" vergleichen Männer mittleren Alters die Airbags ihrer A4-Audis und verzehren dazu Biolamm aus dem Altmühltal oder zarten Rehbraten mit handgemachten Spätzle. Von April bis Oktober pilgern Besucher unter anderem zur Kirche Sankt Walburg, wo Klosterschwestern eine Flüssigkeit, die aus Walburgas Reliquienschrein fließt, mit Weihwasser mischen und den Frommen als Walburgisöl verkaufen.

Das 14.000-Einwohner-Städtchen macht selten überregional auf sich aufmerksam. Dabei ist der kleine Flecken in Oberbayern einzigartig und kann sich eines Titels rühmen, den jede Gemeinde in Deutschland gern hätte. Nirgendwo ist die Arbeitslosenquote niedriger. Zwei Prozent errechneten die Statistiker für den Monat März. Im November waren es 1,5 Prozent. Vollbeschäftigung nennen Ökonomen diesen Zustand.

Ein wichtiger Grund für den Erfolg ist Audi. Der einst etwas piefige, nun edle Autobauer im 25 Kilometer entfernten Ingolstadt boomt und hat seit Mitte der 90er-Jahre rund 7000 Arbeitnehmer eingestellt. Heute beschäftigt allein das Stammwerk gut 30.000 Menschen. "Der Erfolg von Audi hat Auswirkungen auf alle Gewerbetreibenden, vom Elektronikzulieferer bis zum Pizzalieferanten", sagt Reinhard Weber, der an der Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (WFI) Arbeitsmarktökonomie lehrt.

Der gut zahlende Konzern ziehe Ingenieure an, die wiederum Nachfrage produzieren. Sie bestellen bei den mittelständischen Ingenieursbüros Messtechnik für ihre Arbeit und Fastfood für die Spätschicht. Sie richten sich in ihren Wohnungen und Häusern ein, brauchen Waren und Dienstleistungen.

Weitere junge, dynamische Unternehmen ziehen nach. Die Gewerbeflächen sind günstig, die Angestellten finden bezahlbaren Wohnraum: In den Dörfern des Landkreises locken gediegene Giebelhäuser zwischen den sanften Hügeln und Flussläufen des Altmühltals. Schon 1969 baute Osram hier sein Lampenwerk, das mittlerweile 800 Mitarbeiter beschäftigt. 1980 wurde in Eichstätt die einzige katholische Universität im deutschen Sprachraum gegründet.

Oberbürgermeister schimpft über Turbokapitalismus

Zahlreiche Arbeitsplätze finden sich in den Verwaltungen der Kreisstadt und des Bischofsitzes, den vielen Schulen und – nicht zu vergessen – dem Sitz der Bereitschaftspolizei. In den warmen Monaten bieten Hotels und Gastronomie Jobs. Außerdem profitiert Eichstätt wie ganz Oberbayern von der Tatsache, dass in dem einst ländlichen Wirtschaftsraum keine industriellen Altlasten abzuwickeln waren. "So lange die Konjunktur bei den Luxusautos auf dem Weltmarkt nicht einbricht, wird das hier auch weiterlaufen", sagt Wirtschaftsforscher Weber.

Der Boom im Landkreis mag mit erfolgreicher Behauptung in einer globalisierten Wirtschaft zu tun haben. Der örtliche Verwalter des Wohlstands glaubt nicht allein daran. Oberbürgermeister Arnulf Neumeyer trägt einen Ring im Ohr, Bikerstiefel mit Jeans und ein aufgekrempeltes rotes Hemd. Er ist 57 Jahre alt, Sozialdemokrat und während er über den Erfolg redet, stapft er energisch durch sein mit Barockmöbeln voll gestelltes Büro. Er schimpft über Turbokapitalismus und Josef Ackermann und beharrt darauf, dass bei ihm in Eichstätt alles ein wenig anders läuft. "Die Unternehmer hier sind gewohnt, in guten Phasen nicht völlig durchzudrehen und in den schlechten nicht sofort den Kopf hängen zu lassen", sagt Neumeyer.

Unternehmen müssen in München oder Dresden suchen

Aus der Vollbeschäftigung ergeben sich auch für Eichstätt Probleme eigener Art. Völlig leergefegt ist der Arbeitsmarkt in der Region bei den hoch qualifizierten Kräften. Man muss nach München oder gar nach Dresden schauen. "Ingenieure san halt Mangelware", seufzt Markus Fichtner (34). Fichtner ist ein wohlhabender Mann, und er zeigt das auch. Er trägt ein Hemd von Ralph Lauren und einen Gürtel von Armani. In seiner Garage stehen fünf Oldtimer. Der Fahrzeugelektroniker ist einer von zwei Inhabern der 1998 an der Stadtgrenze zu Ingolstadt gegründeten Firma BFFT – Gesellschaft für Fahrzeugtechnik mbH, die mittlerweile 160 Ingenieure und Techniker beschäftigt und vor allem für Audi arbeitet.

Stolz hackt er auf seiner Computertastatur herum und lässt ein Säulendiagramm auf einem riesigen Flachbildschirm aufleuchten: "Letztes Jahr 16 Millionen Euro Umsatz!", ruft er. Dieses Jahr erwartet er eine deutliche Steigerung. Im vergangenen Jahr hat er 35 Leute eingestellt, 15 weitere könnte er gebrauchen. Nur er findet sie derzeit nicht. Pro fehlender Arbeitskraft und Jahr gehen ihm schon jetzt bis zu 100.000 Euro Umsatz verloren.


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Von ihrer Säule blickt die goldene Maria unter der Woche oft auf einen leeren Residenzplatz. Die meisten Eichstätter im erwerbstätigen Alter sind bei der Arbeit.

Doch selbst aus dieser Not hat Fichtner eine betriebswirtschaftliche Tugend gemacht und die Vermittlungsfirma Work Performance gegründet. Sie soll vor allem Ingenieure rekrutieren. Zunächst einmal für BFFT, dann aber auch für andere Unternehmen in der Region. Durch eine Glasfront zeigt er in ein angrenzendes Großraumbüro mit geöltem Eichenparkett. Neun Mitarbeiter sitzen dort an großzügigen Schreibtischen und haben keine andere Aufgabe, als neue Fachkräfte zu finden. Täglich schicken sie E-Mails an 300 potenzielle Jobanwärter, zusätzlich werden Anzeigen geschaltet. Um FH- und Uni-Absolventen in die ländliche Region zu locken, veranstaltet Fichtner "Driving Days". Die Kandidaten dürfen dann ein paar Runden mit nagelneuen Oberklassewagen drehen. Und auch sonst sind die Konditionen nicht uninteressant. Einem seiner Mitarbeiter finanziert Fichtner gerade ein komplettes Masterstudium.

Ingenieure sind verzweifelt gesucht

Auch das Ingenieurbüro Incos kennt die Probleme mit dem Fachkräftemangel. Die Angestellten der Firma mit Zentrale in Titting – einem Dörfchen nördlich von Eichstätt mit Niederlassungen in Ingolstadt und Nürnberg – prüfen weltweit Qualität und Sicherheit von Kraftwerken, technischen Anlagen in der Chemie und Erdölindustrie und in der Luftfahrt. Auch Incos verzeichnet starkes Wachstum, beschäftigt bereits jetzt 135 Mitarbeiter. Letztes Jahr gab es 30 Neueinstellungen, mindestens 20 sind für 2008 angedacht. Die mögliche Expansion des Unternehmens wird schon jetzt durch den Personalmangel gebremst. Weil Incos moderner und größer sein will, wird in den nächsten zwei Jahren der Firmensitz nach Ingolstadt verlegt.

"Wir finden nur mit viel Mühe die Leute, die wir brauchen", sagt Geschäftsführer Stephan Schreiner. Ihm zur Seite steht seine blond gelockte Personalchefin. "Obwohl wir eigentlich nach Leuten aus der Metall- oder Elektrobranche suchen, haben wir auch schon einen Bäcker und einen Koch eingestellt und zum Werkstoffprüfer umgeschult", sagt Schreiner. Und auch ältere Mitarbeiter bekommen ihre Chance. Einer feiert dieses Jahr seinen 70. Geburtstag. "Der Kontakt mit den jungen Leuten hält ihn fit, und wir profitieren von seiner großen Erfahrung", sagt Schreiner.

Jeder, der arbeiten will, bekommt ein Chance

Eichstätt, das ist so eine Botschaft, die man mitnimmt, bietet fast jedem eine Chance. Ryrik Kyryczenko, 59, Elektroinstallateur ukrainischer Abstammung hatte nach anderthalb Jahren Arbeitslosigkeit und 180 Bewerbungen im oberbayerischen Denkendorf kaum noch Hoffnungen. "Doch die bei Incos waren ganz begeistert", sagt der bärtige Facharbeiter in blauer Monteurskluft. Kyryczenko absolvierte zwei Schulungen als Werkstoffprüfer, lernte wie man radioaktives Material transportiert und frischt demnächst seine Kenntnisse in Elektrotechnik auf. Er sagt: "Ich arbeite weiter so lange ich morgens noch aus dem Bett krabbeln kann."

Am Stichtag im Januar waren gerade noch 721 Arbeitslose im Bezirk Eichstätt gemeldet, darunter 250 Langzeitarbeitslose. Und die Betreuer der örtlichen Bundesagentur für Arbeit halten ihre Klienten auf Trab. Jeder von ihnen ist nur für 120 Arbeitslose zuständig. Diese müssen alle drei Wochen zur Beratung antreten. "Wir bringen selbst Leute mit unerfreulichen Zeugnissen und schlechten Lebensläufen unter", berichtet Peter Kundinger, Sprecher der Agentur für Arbeit im Raum Eichstätt und Ingolstadt. Andere Klienten haben sie kaum noch. "Wir haben höchstens zwei bis drei Ingenieure in der Kartei", sagt Stephan Knittl-König, Leiter der Arbeitgeberbetreuung der Arbeitsagentur.

Stellenanzeigen für 10.000 Euro - nur zwei Rückmeldungen

Er hat viele Geschichten zu erzählen, die man so in anderen Arbeitsagenturen der Republik nicht zu hören bekommt. Da sucht eine Speditionsfirma seit November 2007 einen LKW-Mechaniker, hat 10.000 Euro in Annoncen gesteckt und bekommt nur zwei Rückmeldungen und keine Zusage. Da erhält ein Fräser oder Dreher auf Arbeitssuche binnen zwei Monaten 40 Angebote. Da haben die Eichstätter Gastronomen bereits Mitte Januar zehn Stellenangebote für die Sommersaison 2008 eingereicht.

Knittl-König bezweifelt dennoch, dass er genügend Leute vermitteln kann. Traurige Ironie des Erfolges: Er muss er sich um seinen eigenen Job sorgen. Sein Vertrag bei der Arbeitsagentur läuft dieses Jahr aus. Kein Wunder, dass manche Unternehmer in der Region im vertraulichen Gespräch "eine gesunde Arbeitslosigkeit" wünschen. Dann hätten sie mehr Auswahl.

Arbeitslosigkeit ist verpönt

Selbst die kleinen Gewerbetreibenden suchen häufig vergebens. Da ist die Fahrschule vom Schwiegersohn des Oberbürgermeisters, die seit November 2007 keinen Fahrlehrer findet. In der Bäckerei Jann am Marktplatz hängt genauso lang ein Stellenangebot für eine Aushilfe. "Gerade mal eine Frau hat sich interessiert, ist aber dann nicht mehr erschienen", berichtet die Verkäuferin im Laden. Und am Schwarzen Brett der Uni sucht sogar die Stadtkapelle einen Bläser fürs Orchester. Die Restarbeitslosen von Eichstätt können nur mit wenig Verständnis rechnen. "Arbeitslosigkeit ist hier im Landkreis verpönt. Sie sind dann im Ort der Arbeitslose", sagt Pressesprecher Kundinger von der Arbeitsagentur.

Gleichwohl: Es gebe auch in Eichstätt versteckte Armut, sagt Hans Wiesner von der Caritas, ein sanftmütiger Schuldenberater im Tweed-Jackett. Wie sonst sei es zu erklären, dass die Menschen bei den Kleiderkammern der Sozialverbände und bei den kostenlosen Lebensmittelausgaben – den sogenannten Tafeln – Schlange stehen? Vielen reiche der Job oder die Rente nicht zum Leben, glaubt er. "Die Leute sind verschämt, sie outen sich nicht in der Öffentlichkeit und den Behörden."

Im Wartezimmer des Arbeitsamtes zu Eichstätt sind die meisten Stühle verwaist. Nur zwei korpulente Frauen sitzen gleich neben der Tür. Fragt man sie nach ihrem Anliegen, wehrt die eine murmelnd ab. Die Situation sei schon schwer genug. Die andere dreht den Kopf zur Seite und schweigt. Im Flur sitzt ein schmächtiger südländischer Jugendlicher mit schwarzen Locken. Neben ihm sein Vater mit misstrauischem Blick. Nein, sie möchten nicht darüber reden, warum sie hier sind. Nur soviel. Er sei seit zwei Monaten gar nicht mehr arbeitslos.

Ansonsten sind die Probleme in dem Städtchen überschaubar. Davon zeugt die Berichterstattung des Eichstätter Kuriers. In der Westendstaße hätten in der Winternacht Unbekannte eine Mutterhäsin mit vier Jungen in einem Pappkarton ausgesetzt und ihrem Schicksal überlassen, berichtet die Lokalzeitung. Die Tiere seien aber unversehrt gefunden und nun beim Tierschutzverein untergebracht. Die Polizei ermittele. Weiteres folge: "Lesen Sie morgen mehr im Eichstätter Kuriert." Über Arbeitslose lohnt es sich hier nicht zu schreiben.