Dad, Mum, Zähne putzen

(Baby und Familie)

Eine Vermittlung in den Westen ist für viele indische Waisenkinder die einzige Chance auf ein Leben mit Familie. Doch adoptionswillige Paare müssen einen manchmal zermürbenden Kampf gegen die Bürokratie führen



© Andrea Schuhmacher

Mit großen Augen richtet sich die Einjährige in ihrem Gitterbett auf. Für ihr Alter das Mädchen viel zu dünn und zu klein

Schüchtern zeigt Jegan auf das zerknickte Foto in seiner braunen Hand. Dann haucht er: „Dad, Mum". Der Mann auf dem Bild hält eine blonde Frau im Arm. Der Finger des kleinen Inders wandert weiter auf dem Papier: ein lachender Junge und ein Mädchen mit frechen Zöpfen steuern ein weisses Motorboot. Jegan schaut fragend unter seinen pechschwarzen Haarfransen hervor. „Brother", fällt Schwester Paulina ein: "Brother and Sister."

Der Sechsjährige spricht Tamil,  Englisch kann er kaum. Deutsch gar nicht. Dabei könnte er bereits seit Monaten seine ersten Worte Schwäbisch lernen, wären da nicht die Hürden der Bürokratie: Seit September 2003 kämpfen Monika und Ulrich Kippelt aus Alfdorf in Stuttgart um die Adoption des indischen Waisenkindes. Die Geschichte von Jegan und seinen neuen Eltern ist ein Drama mit großen Gefühlen, Enttäuschungen und Hoffnungen und einem noch ungewissen Ende. Sie zeigt, wie schwierig Auslandsadoptionen sind - und wie wichtig.

In Indien hätte etwa Jegan nur wenig Chancen gehabt. Zwar hatte ihn seine ledige Mutter schon unmittelbar nach Geburt in einem Waisenhaus im südindischen Kerala abgegeben, und normalerweise sind männliche Babys  noch am leichtesten zu vermitteln. Doch als die Ärzte bei dem Kind eine chronische Schilddrüsenerkrankung feststellten, war klar, dass sich keine indischen Adoptiveltern finden würden: die Kosten für die Medikamente sind zu hoch. Deshalb wechselte Jegan als Zweijähriger nach Chennai zu den Franziskanerinnen ins Babyheim Saint Thomas Mount, das die staatliche Lizenz für Adoptionen in den Westen besitzt. Entscheidende Voraussetzung: Sie müssen dreimal von indischen Paaren abgelehnt worden sein.


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Ältere Kinder sind in Indien schlecht zu vermitteln, dennoch bereiteten die indischen Behörden den deutschen Adoptiveltern Probleme. Jegan in den karierten Hosen hatte Erfolg

"Das geht manchmal ziemlich schnell", erläutert Schwester Paulina, die 57-jährige Heimleiterin, während sie im rostroten Sari durch die peinlich sauberen Schlafräume der Ein- bis Zweijährigen führt. In rostigen Gitterbettchen liegen die Kinder allein. Rosa und zitronengelbe Plüschteddys sehen ihnen von einem Wandregal aus zu. Für ihr Alter sind die Mädchen und Jungen viel zu dünn und zu klein. "Wir brauchen lange, um die Babies aufzupäppeln", sagt Paulina. "Manche bringen nur ein gutes Kilo auf die Waage, wenn sie hier abgeliefert werden."

Besonders Mädchen, deren Hochzeit die Eltern finanziell ruinieren kann, finden häufig keine heimischen Adoptiveltern, berichtet Schwester Paulina. „Auch bei dunkelhäutigen und älteren Kindern ist es schwierig", erklärt sie - auch im Westen. „Die meisten Paare wollen Babys." Die Schwestern waren  daher froh, als die Kippelts sich für Jegan entschieden. "Wir beten dafür, dass es bald klappt."

Jegan wünschte sich das Alfdorfer Paar als jüngeres Geschwisterchen für ihre bereits früher adoptierten Kinder: Den heute zehnjährigen Johannes und die siebenjährige Teresa hatten sie sich geholt, nachdem  klar war, dass Monika Kippelt nach einer Blinddarmoperation  keine eigenen Kinder bekommen konnte. Als ihnen die indische Adoptionsvermittlungsstelle über das Landesjugendamt Baden-Württemberg Jegan anbot,  waren sie gleich begeistert – obwohl sie vor ihrer Zusage noch nicht einmal ein Foto des Jungen sehen durften.

Doch dann verzögert sich der Adoptionstermin immer wieder. Mal verliert ein Sachbearbeiter in Indien das Formular über die Vermögensverhältnisse, mal überträgt das deutsche Kreisjugendamt ein falsches Hochzeitsdatum. „Es reicht schon, dass sich irgendwo ein Schreibfehler einschleicht und alles zieht sich Monate länger hin", seufzt Monika Kippelt ungeduldig.

Im vergangenen September gab das Waisenhaus schließlich grünes Licht und Kippelts flogen in den Herbstferien nach Chennai um Jegan abzuholen: „Wir mussten richtig auf die Reise sparen, aber wir wollten, dass unsere beiden älteren Kinder dabei sind."


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Manche Kinder wiegen nur ein gutes Kilo, wenn die Schwestern sie vor der Pforte des Kinderheims finden

Zehn Tage verbringt die neue Familie in einem Hotel am Strand: Nach den Adoptionsbestimmungen soll sich die Familie in Jegans Heimat beschnuppern. Bald blüht der zurückhaltende Junge auf, plantscht mit seinen Geschwistern im Pool. Er spricht auf Tamil, mit Händen und Füssen und versucht seine ersten Worte auf Deutsch: „Zähne putzen", schmettert er, als ihn beim Besuch einer Krokodilfarm das Gebiss eines Reptils beeindruckt.

Zum Ende der Schulferien fliegen der Vater und die beiden älteren Kinder zurück nach Deutschland. Monika Kippelt bleibt mit Jegan im Hotel in  Chennai und wartet auf seinen Ausreise-Pass. Doch der zuständige Ministers für Soziales ist überlastet, er unterschreibt den Antrag nicht. Nach drei Wochen lässt sich immer noch nicht absehen, wann Jegan seine Unterlagen erhält.

Monika Kippelt entscheidet sich, weitere fünf Wochen zu bleiben. Wenn die Papiere dann nicht fertig sind, will sie zurück fliegen. Doch als Mutter und Adoptivsohn einen Besuch im Kinderheim abstatten, bringen die Erzieherinnen den Jungen heimlich in einen abgeschlossenen Bereich. Zu Unrecht, denn zu diesem Zeitpunkt besaßen die Kippelts schon die Vormundschaft für den Kleinen. Monika Kippelt hört  Jegan  hinter der Gittertür brüllen. „Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen."

In der restlichen Zeit versucht sie den indischen Behörden Jegans Pass abzutrotzen, sucht vergeblich Unterstützung beim deutschen Konsulat. Es könne drei Tage, aber auch noch drei Monate dauern, erklärt ihr der zuständige Beamte mit einem Achselzucken.

Kurz vor Weihnachten fliegt sie allein nach Deutschland zurück. Sie versucht sich in den Familienalltag zu stürzen, doch ihre Nerven liegen blank. "Das ist unbegreiflich", stöhnt sie. "Dieses Kind will dort keiner und wir dürfen es nicht zu uns Hause nach holen."

Kein Wunder, dass für die meisten Paare die Ausland­sadoption nur der letzte Versuch ist. Die meisten Paare experimentieren jahrelang mit künstlicher Befruchtung, bevor sie diesen Weg versuchen. "Das blieb uns zum Glück erspart," sagt Elke Fischer. Sie wusste schon mit 14 Jahren, dass sie keine eigenen Kinder bekommen kann. „Wenn wir soweit sind, adoptieren wir", beschloss sie de­shalb mit ihrem Mann Bernd Märkle.

Doch die deutschen Jugendämter machten "uns erst mal alles madig", erinnert sich Märkle. Auf ein deutsches Kind müsse man bis zu sieben Jahren warten, wurde ihnen gesagt,  und dann dürfe keiner der Partner über 40 Jahre alt sein. In Seminaren würden Motivation, Erziehungsvorstellungen, Einkommen, Gesund­heit und soziales Umfeld der Adoptiveltern geprüft. Auch eine stabile Partnerschaft und Be­lastbarkeit müsse den Bewerbern bescheinigt werden. "Wir hatten den Eindruck, dass uns keiner richtig helfen will."

In dieser Situation brachte sie ein Fernsehbeitrag über die staatlich anerkannte Vermittlungsstelle für internationale Adoptionen ICCO in Hamburg auf die Idee, ihr Glück in Indien zu versuchen. Seitdem beide Länder das "Haager Abkommen über internationale Adoptionen" ratifiziert haben, sind  indische Auslandsadoptionen sicherer geworden: Während in Deutschland die Eignung der Eltern überprüft wird, forscht die indische Adoptionsbehörde CARA nach, ob es sich bei den Kinder tatsächlich um eine Waise oder ein ausgesetztes Kind handelt.

Trotz der kompetenten Unterstützung der Organisation erwarteten die Adoptiveltern jede Menge Komplikationen: In zwei Jahren bekamen sie  Zusagen für vier unterschiedliche Adoptivtöchter. Doch jedes Mal wurde nichts aus der Vermittlung, weil die Mädchen nach Angaben der indischen Behörden an die leiblichen Eltern zurückgegeben wurden. "Unsere Enttäuschung war jedes Mal riesengroß", erinnert sich Elke Fischer.


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Heimleiterin Schwester Paulina sucht häufig vergeblich nach Adoptiveltern

Beim dritten Mal hatten die beiden Glück: Im Dezember 2004 konnten sie die dreijährige Sonali aus dem Kinderheim Preet Mandir in Pune abholen. In einem feierlichen Ritual legte ihnen der Heimleiter Blütenketten  um den Hals und malte den frischgebackenen Eltern einen orangefarbenen Punkt auf die  Stirn. Er bat beide, die Arme nach vorn auszustrecken, dann legte er ihnen das kleine Mädchen im Rüschenkleidchen in die Arme. "Ich hatte wahnsinnig Angst, dass ich in Tränen ausbreche", erinnert sich Elke Fischer. Unter dem Beifall der  Pflegerinnen musste Bernd Märkle noch eine Kokosnuss zerschlagen. Sie zerfiel in kleine Stücke: "Gut so!", kommentierte der Heimleiter, dass bringt Glück!"

Mit der  aus Deutschland mitgebrachten Puppe  kann Sonali zunächst nichts anfangen, denn Spielsachen kennt sie kaum. Auch an den neuen Papa muss sie sich erst gewöhnen,  denn bislang haben sie nur Frauen betreut. Doch am Tag vor dem Rückflug nach Deutschland gibt sie den neuen Eltern zum ersten Mal freiwillig ein Gute-Nachtküsschen. Dann hält sie sich mit je einer Hand an beiden fest und schläft ein.

Und auch Monika Kippelt bekam im Februar dieses Jahres endlich die ersehnte Nachricht: Der Pass ist da, Jegan kann kommen. Schnell schreibt sie noch eine Mail: "Bin total aufgeregt und fertig mit den Nerven, voller Vorfreude und doch noch voller Angst das irgendwo wieder irgendeine Fußangel lauert, mit der niemand rechnet."