Die Barbies der Balten

(ADACreisemagazin)

Schönheit statt Sozialismus skandiert die junge Modewelt in Estland, Lettland und Litauen. Beim FordModelwettbewerb in Vilnius suchen westliche Agenturen nach den hübschesten Mädchen des Baltikums


© Reiner Riedler
Ganz schön professionell – Diana während des Fotoshootings auf einem Hochdach

Veronika Mamontovas bestes Argument gegen den Sozialismus sind zweifellos ihre Beine: Lang und schlank und schön enden sie unter dem Saum ihres weißen Stretchminis, den sie bis zum Po hoch gezurrt hat: 14 Jahre, platin-blondes Haar, stakst die estnische Schönheit aus dem Reisebus, der sie nach Vilnius gebracht hat. Der "autobusu stotis" der litauischen Hauptstadt ist eine Betonscheußlichkeit, wie man sie Überall zwischen Berlin und Peking findet. Mamontova streckt ihr Kinn in die Höhe wie eine Prinzessin und blickt dezent entnervt in die Ferne als wollte sie fragen: "Wo, verdammt nochmal, ist der rote Teppich?"

Was Neues im Osten. Spätestens seitdem das estnische Model Carmen Kaas für Vogue und Givenchy posierte, entdecken die Modemacher des Westens die unverbrauchten Gesichter des Ostens. Denn nirgendwo sind die Zähne weißer, die Augen blauer und die Haare blonder als im Baltikum. Nachdem der Heroin Chic einer Kate Moss endgültig ein Ende gefunden hat, bewerben sich die Barbies der Balten mit ihrer neuen Natürlichkeit um die Nachfolge auf dem Laufsteg. Bei den wichtigen Schauen der Frühjahrssaison 2005 kamen 20 der etwa 100 Models aus ehemaligen Ostblockstaaten.

Im Fünf-Sterne-Hotel "Le Meridien" sitzen 21 blasse Bikinielfen wie Hühner auf der Stange auf kobaltblauen Polsterstühlen und hoffen auf ihre Zukunft. Die Mädchen sind aus Estland, Lettland und Litauen angereist, um hier beim baltischen Ableger des weltweiten "Ford Supermodel"Wettbewerbs für Paris, Mailand und London entdeckt zu werden. Aus jedem Land soll nach einer Woche Vorbereitung je eine Siegerin gekürt werden, die bei der Endausscheidung in New York teilnehmen darf. Wer dort gewinnt, steckt 250 000 Dollar ein und darf sich fortan Supermodel nennen. Doch davor steht Jolanta Sadauskiene, Leiterin der veranstaltenden Agentur Modilinos.

"90-60-90" lautet die Parole der reizbaren Enddreißigerin mit Schirmmütze und bauchfreiem T-Shirt. Ihre Waffe ist ein rosa Maßband. "Bist du sicher, dass du ein Model werden willst?" zischt sie die 17jährige Estnin Liisi Tasa nach dem Maßnehmen an. "Dann musst du abnehmen. Was meinst du wohl, was die Leute sagen, wenn wir dich so auf den Laufsteg lassen!" Betreten nickt Liisi in ihrem jeansblauen Bikini. Beim Abendessen wird sie traurig zwei Tomaten-scheiben verzehren.


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Wo, verdammt noch mal, ist hier der rote Teppich? Nachwuchsstars beim Model-Wettbewerb in Vilnius

Sadauskiene erläutert ihr Geschäftsmodell: Sie bringt den Mädchen das Laufen bei, streckt manchmal die Kosten für Fotos und Schuhe vor. Dafür bekommt sie bei jeder Buchung 20 Prozent des Honorars. "Nur das Geschäft zählt", berichtet die Betriebswirtin und streicht sich durch ihr dünnes Haar, am Handgelenk die GucciUhr. Sie preist ihre Ware: "Die baltischen Mädchen wollen nicht nur Party machen, sondern hart arbeiten und vorankommen."

Das Geld lockt sie alle. Selbst wer nur auf einen für die Branche eher bescheidenen Tagessatz von 1000 Euro kommt, verdient in einer Woche mehr als ein Durchschnittslitauer in einem Jahr. Das Modeln ist der schnellste Weg aus dem häufig immer noch grauen, postsozialistischen Alltag. Mode kann hier noch Märchen möglich machen. Jede hier kennt die Geschichte der Litauerin Asta Buziliauskaite, die 2001 als 17jährige tatsächlich den weltweiten FordWettbewerb gewann und in ein anderes Universum katapultiert wurde, wo die Hotels glamourös und die Menschen schön sind.

"Von Kindheit an wollte ich ein Model sein, ich wollte schöne Kleider haben", erzählt die 20jährige Informatikstudentin Jelena Levsina. "Ich würde so gerne andere Länder und fremde Menschen kennen lernen," schwärmt Karmen Suurkivi. Migle Serzentaite, 17, aus Kaunas träumt von Italien. Sie sei immer offen für "neue Erfahrungen und Abenteuer", versichert die selbstbewusste Diana Chaplinska, 17: "Man muss seine Chancen nutzen."

Im Hotelschwimmbad kommen sich die Mädchen näher, beäugen die Konkurrenz. Liisi kratzt sich sich ein bisschen an der Nase. Veronika bläst die Blacken auf und steigt majestätisch im Stringtanga aus dem Becken. Migle legt sich auf einen Liegestuhl und winkelt graziös ihr Bein an. Da wird der sonst so schweigsame Kameramann mit dem Tattoo am Arm, der für das litauischen Fernsehen eine Dokusoap dreht, ganz poetisch: "Weißt Du, das ist, als würde man von außen an einem Honigglas schlecken."


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Szenen aus dem Model-Alltag: Herumalbern hinter der Bühne, Warten auf den großen Auftritt

Das Politische im Erotischen sieht Modelscout Jurgita Sabaite, 26, ebenfalls von  Modilinos. Knappe Bikinis seien Symbole der Freiheit. Nach Jahrzehnten sozialistischer Prüderie betonten die Frauen ihre Weiblichkeit. Baltische Models verkündeten diese Botschaft im In und Ausland. "Sie sind meine sweet stars", haucht Sabaite und zieht eine Schnute, dass der weißliche Lippgloss  nur so glitzert. "Sie kommen hierher: jung, hübsch und schüchtern wie die Mäuschen. Und wenn wir mit ihnen arbeiten, gehen sie auf wie wunderschöne Blumen." Doch dafür bedarf es Disziplin.

Entdeckung der Konkurrenz. "Kopf hoch! Brust raus!" kommandiert Sabaite in Jeans und Juristenbrille beim Laufunterricht am nächsten Tag. "Nicht zu große Schritte!" Während aus einem Ghettoblaster rhythmischer Pop dröhnt, schreitet sie gekonnt einen imaginären Laufsteg entlang. Ihr folgen die Mädchen. Modefotograf Tomas Kauneka blättert unterdessen in den Books der Mädchen auf der Suche nach einem Model für ein erstes Shooting, das ein Pelzgeschäft in Auftrag gegeben hat. Schließlich sagt er: "Also, ich hab mich für Migle entschieden." Die anderen klatschen eher höflich Beifall. Enttäuschung und erste Selbstzweifel machen sich breit. Argwöhnisch beobachten sich die Models: Wer ist die Schönste aus jedem Land?

Zumindest die Grafiker der litauischen Cosmopolitan beantworten die Frage recht traditionell: Die Wand hinter ihren Rücken ist bis zur Decke mit Pinup-Postern kurviger, barbusiger Girls zugeklebt. Irritiert stöckeln die braven Mädchen an ihnen vorbei auf dem Weg zum nächsten Shooting. Der litauische Ableger der internationalen Frauenzeitschrift wurde  erst 1998 gegründet. Es war ein symbolträchtiges Ereignis.

"Zu UdSSR-Zeiten gab es keine Modeindustrie, die Materialien waren billig und die Schnitte schlecht", erinnnert sich Redakteurin Vanda Virbalaite. Erst seit Ende der 90er gibt es Schauen, Modefestivals und erfolgreiche Designer. Die großen Marken wie Escada, Marco Polo und Armani haben in den Barockbauten der Altstadt ihre edlen Filialen eingerichtet. "Jede Frau will sich modisch kleiden", versichert Virbalaite.

Gemeinsam mit einem schwergewichtigen Fotografen im roten Cosmo-Shirt blättert Virbalaite durch die Books. "Die hier ist nett, aber zu jung." Und: "Da bin ich mir nicht sicher wegen der Lippen." Aber dann: "Die hier ist süß und sexy."

"Me?!" jauchzt wenig später Evija Meiksane aus Riga, eine amazonenhafte 16jährige mit rückenlangen blonden Haaren. Schon hat sie ein türkisfarbenes Hippie-Blüschen angezogen. Die Visagistin tuscht Evijas Wimpern, der Fotograf zupft an einer Haarsträhne. Dann kann es losgehen: Evija steht hinter einem Ventilator. Ihre Haare flattern. Die Kamera klickt. Sie stellt einen Fuss auf eine schwarze Box, zieht die Schultern nach hinten, dreht sich zur Seite, stemmt den Arm in die Seite und lässt den anderen grazil pendeln. Die anderen Mädchen trotten bedröppelt ins Hotel.


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Gruppenbild in Volantrock und Hose - Die Mädels zeigen Bein für eine bessere Zukunft

Es haben sich Gefühle angestaut, und vielleicht ist das der Grund, wieso es so abgeht am nächsten Tag im Fotostudio des Mädchenmagazins "Panele". Hier nämlich dürfen sie alle mal posieren, ja schauspielern sollen sie sogar, bittet der Fotograf in brüchigem Englisch. "Freude bitte! Oder Wut! Keine Angst vor Grimassen!" Dann drückt er ihnen einen Teddybären mit hellblau karierten Schal in die Hand. In der nächste Stunde wird der Teddy geohrfeigt, geschüttelt, mit verliebtem Augenaufschlag angelächelt und an den Busen gedrückt. Egle Zukaite zögert etwas, dann fragt sie: "Kann ich mit ihm sprechen?" und legt los: "What did you do?" herrscht sie den Teddy mit erhobenen Zeigefinger an. "You are a very bad boy." Die nächste schlägt den Teddy mit ein paar Handgriffen k.o. Am Tag vor dem Wettbewerbsabend scheint die Lage angespannt.

Gläsergeklirr, Stimmengemurmel. Im Foyer des Opernsaales des Meridien-Hotels treffen die Gäste und Jurymitglieder ein und diskutieren bei Whisky, Champagner und Martini die Erbanlagen der baltischen Barbies. "Die haben so einen Glanz in den Augen, den man sonst nicht findet – und haben dabei nicht so rote Bäckchen wie die Russinen", schwärmt Jenny Lescure von der Agentur Ford Paris. "Rein genetisch sind die halt schmaler gebaut und meist blond" freut sich Andrea Weidler von Wiener Models. "Obwohl das hier modisch gesehen ja total Dritte Welt ist", meint Carlos Streil, Scout der Frankfurter Agentur "East West Models."

Tatsächlich ist das Publikum modisch eher durchmischt: klassisch elegante Paare in Cocktailkleid und gestreiften Anzug, aufgeregte Mütter in Blümchenbluse, ein furchtloser, litauischer Modesigner in einer Latzhose aus Armee-Tarnstoff, Dandymütze, auf der Nase eine dicke, schwarze Hornbrille, die Füße in Gummilatschen.

Musik setzt ein, Licht geht an. Sabaite gibt dem ersten Mädchen einen Stups, das daraufhin mit einem kreisrunden Pappschild, auf dem eine 1 gemalt ist, mit professionellem Lächeln und gekonntem Hüftschwung über den Laufsteg marschiert. Nummer 3 erntet Beifall. Bei Nummer 11 lugt das Markenschildchen unter dem Schal vor. Etwas lustlos und steif macht Veronika Mamontova als Nummer 21 den Abschluss der ersten Runde. Bis zuletzt hatte sie mit ihren etwas knappen Hotpants gehadert: "Wir sehen aus wie die Schlampen."

Während sich die Mädchen für die zweite Runde umziehen, verwirrt das Rahmenprogramm manche Westeuropäer unter den Gästen. Vier fesche Jungs der Boygroup "Funny beat" machen Ihre Aufwartung in akkurat quer aufgeschlitzten Jeans und weißen Tennissocken. Sie  vollführen einen Mix aus Kosakentanz und Stepp, stampfen mit den Füssen, schliddern über die Bühne und rempeln sich gegenseitig an. Sie peifen Liedchen und dann ruft der Tänzer mit dem Pferdeschwanz ein temperamentvolles: "He!" Wild blinken  die Lämpchen am Laufsteg. Die Wiener Jurorin schlägt zunächst noch gutwillig den Takt mit dem Fuss, dann wird es auch ihr zu deftig. Die Mailänder und Pariser Agenten wedeln sich mit dem Programm Luft zu.


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Auch mal die Sau rauslassen – abtanzen in der plüschigen Hotelbar, wobei sich die Aufregung des Tages entlädt

Dann marschieren die Mädchen in die zweite Runde, diesmal nach Ländern geordnet, gekleidet in Volantröcken und Hüten mit breiten Krempen.

 Die Jury ist nur noch begrenzt interessiert, denn eigentlich hat sie ihre Entscheidung schon am Vortag gefällt, als sich díe Mädchen einzeln im Bikini vorgestellt hatten.

Vor der Preisverleihung strapaziert Egidijus Sipavicius, Moderator des Abends und ein beliebter Schlagersänger Publikum und Jury: er schmalzt Playback und  soft einen litauischen Text zur Melodie von "I just call to say I love you"  ins Mikrofon.

Dann folgt der Höhepunkt der Woche: Alle Models reihen sich noch einmal auf der Bühne auf.

Die französische Jurorin steigt im weißen Hosenanzug auf die Bühne und gibt die Gewinnerin in einem Idiom bekannt, das sie für Englisch hält. Glücklicherweise errät Egle Zukaityte, 14, aus Kaunas ihren Namen und nimmt strahlend ihre Urkunde entgegen. Um sich nicht weiteren sprachlichen Peinlichkeiten auszusetzen, macht´s die Jurorin kurz. "For the other countries, the winners are Number 10 und 17."


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Model 8 stolziert routiniert über den Catwalk

Aufgeregt, fast erschrocken tritt auch Eilina vor und küsst die verdutzte Jurorin und ihre litauische Kollegin auf beide Wangen. Dann macht sich ein entspanntes Lächeln auf dem Gesicht der zarten Dunkelhaarigen breit. Die drei Gewinnerinnen posieren wie benommen für Presse und Fernsehen. Hinter der Bühne fließen Freudentränen. Eilina tippt in ihr Handy, um ihre Mama anzurufen. Später feiern die Models in der plüschigen Hotelbar. Unter Applaus rollt eine Erdbeer-Sahnetorte in den Saal, Tischfeuerwerk versprüht Glitzerfunken. Migle löffelt fröhlich einen Berg Sahne in sich hinein. Dann tanzt sie gelöst mit dem deutschen Agenten.

Denn eine Zukunft hat auch Migle, wie ein Besuch bei ihr am nächsten Tag ergibt. Durch eine rostige Eisentür gelangt man in die Plattenbauwohnung, wo sie zusammen mit ihrer geschiedenen Mutter wohnt, einer Ex-Maschinenbauingenieurin, die jetzt als Buchhalterin arbeitet. In dem kleinen Wohnzimmer vertreten ein rotes Sofa mit Goldmuster und Häkeldeckchen auf dem Fernseher das Anliegen der Gemütlichkeit.

Migle trägt einen fliederfarbenen Glitzerpulli und einen goldfarbenen Reif mit Strassteinchen im Haar. Ungeduldig streichelt sie ihre weiße Katze "Alice" mit dem neonpinkfarbenen Halsband, während ihre Mutter Fettgebackenes serviert und die Lage klar macht: Die Arbeit sei knapp, und als Model könne man gutes Geld verdienen, auch wenn Migles Vater nichts davon halte: "Er versteht nicht, dass man sich in der freien Wirtschaft verkaufen muss."

Später schnürt Migle die rosa Schuhbänder und verschwindet mit ihrer Schwägerin in die Vorstadtlounge "Bella Italia". In poppigen Skysesseln genehmigen sich die beiden einen Latte Macchiato. Migle taut auf und redet sich Begeisterung: Seit eineinhalb Monaten sei sie bei der Agentur Modilinos eingetragen. Schon am Wochenende vor dem Contest hatte sie ihr erstes Shooting für eine Wirtschaftszeitung – "auf dem Titel!" Demnächst soll sie nach Asien! Beim Verlassen der Bar blättert sie noch schnell die Tageszeitungen durch. "Noch keine Bilder drin", knirscht sie unzufrieden. "Naja, dann wohl morgen".