Lieben Pferde Strawinsky?

Der Pariser Choreograph Bartabas bringt Reittiere zum Tanzen und Menschen zum Staunen


© Antoine Poupel
Erlösung im Pferdehimmel. Zu der Musik von Pierre Boulez schweben Skelette zum Firnament
Das muss wohl ein Patzer sein: Stolz galoppiert der Schimmel zu den strengen Klängen Igor Strawinskys in die Manege, dreht hocherhobenen Hauptes eine Runde - und wälzt sich lustvoll im Dreck. Zwei wei­tere Pferde liebkosen sich derweil. Doch dann zeigt sich choreogra­phische Absicht hinter dem anar­chistischen Treiben. Die Aktionen wiederholen sich, abwechselnd findet sich ein Pferde-Paar, wäh­rend das drittem Tier sich suhlt. Und das Publikum begreift: Die Pferde tanzen!

Es ist die heiterste Szene in dem poetischen, manchmal melancholischen Spektakel. Abend für Abend lockt die Theatertruppe Zingaro rund 1500 Zuschauer in ihren Zirkusbau im tristen Pariser Vorort Aubervilliers. Die Bretterfestung zwischen Mietskasernen und Schnellstraßen ist dennoch ein magischer Platz: Wer die lange Anfahrt nicht scheut, kann hier ein ganz besonderes Pferdewin-termärchen erleben.

 

 

 

Bartabas geht es um Gefühle, nicht um Kunststücke.

„Triptyk" heisst das neue, dreiteilige Stück des in Frankreich le-gendären Pferde-Choreographen Bartabas.Er verzaubert sein Publikum nicht mit komplizierten Dressurakten, sondern mit Bildern und gerittenen Phantasien. „Ich will weder Spektakuläres noch Virtuosität inszenieren. Ich will Emotionen wecken", erklärt Theaterchef Bartabas, ein musku-löser Mittfünfziger mit kurzge-schorenen Haaren. Seine neue Inszenierung läßt keinen Zweifel, dass es ihm um Ur-Gefühle geht, um Kampf und Vergänglichkeit, um Hoffnung und Erlösung in ei-ner Zeit, wo Tiere und Menschen sich noch nahe waren. In fast schon sakraler Atmosphäre empfängt „Triptyk" die Zuschauer: Weihrauchschwaden zie-hen durch die Luft, schwarz gähnt die Manege. Als die ersten Klänge von Strawinskys „Sacre du prin-temps" einsetzen, flammt plötzlich ein Scheinwerfer auf und entdeckt eine tätowierte Gestalt im Dunkel. Dann eine zweite, eine dritte. Nur mit einem Lendenschurz bekleidet robben die schweißglänzenden Körper durch die rote Erde, stehen auf und setzen vorsichtige Schritte auf einer flachen, erdbedeckten Halbkugel, die wohl die Welt be-deuten soll: Menschheitsdämme-rung. Schon preschen sechs wild bemalte Reiter in die Manege. Die Pferde sind auch schon da! Von Anfang an.


© Antoine Poupel
Kraft und Eleganz von Mensch und Tier
Eine furiose Bilderfolge beginnt. Die tätowierten Tänzer stürmen in alle Richtungen, um sich gleich wieder mit vorsichtigen Schritten an die Pferde und Reiter heranzu­schlängeln. Sie winden sich unter den trabenden Tierkörpern hervor, klettern auf die Tierrücken, verfan­gen sich in den Pferdeschwänzen. Flucht, Angriff, Unterwerfung wechseln sich ab. Dabei gehen die Bewegungen der Pferde und Men­schen ineinander über. Mit gutem Grund hat Bartabis Tänzer aus dem südindischen Ke­rala engagiert. Sie sind im Kalari­payatt ausgebildet, einem Kriegstanz, der bewußt tierische Bewe­gungsformen aufnimmt: „Kein Tänzer mit einer klassischen Aus­bildung wäre in der Lage, so et­was zu leisten", glaubt Bartabas. Die Kombination von klassischer Viusik, exotischem 'Tanz und Pfer­dedressur liefert Szenen von frem­der Schönheit, die sich der Inter­pretation verweigern. Die Macher von Zingaro finden das gut so. So kann jeder Zuschauer seine eigene Geschichte erfinden. Bei den meisten Zuschauern wird dennoch die zentrale Botschaft von Zingaro ankommen: Pferde und Menschen haben eine derart lange gemeinsame Geschichte, dass die Tiere - so Bartabis - „im kollektiven Unterbewuitsein" präsent seien. Sie gehörten zum Mythenbestand. Das Pferd sei über Jahrtausende der wichtigste Helfer bei Arbeit und Transport gewesen, bis in dieses Jahrhundert Begleiter im Krieg. „Noch vor hundert Jahren konnten Menschen ein Hufeisen anlegen, so wie sie heute ein Rad wechseln", sagt Bartabis. Er wehrt sich gegen eine Haltung, die im Pferd nur ein Frei­zeitobjekt sieht - oder ein Tier, dem sich Kunststücken andressieren lassen. Mit einem traditionellen Zirkus will Bartabis nichts zu tun haben.

Mit einem traditionellen Zirkus will Zingaro nichts zu tun haben

Der Herr der Reiter - wie ihn die französische Öffentlichkeit respekt­voll nennt - setzt auf den Reiz des Unkonventionellen und Mysteriö­sen, auch wenn es um seine Person geht. Seine Vergangenheit und sei­nen bürgerlichen Namen hält er geheim. Er stamme aus einer großbürgerlichen Familie in der Nähe von Paris, heißt es. Bartabis - der Wüterich - taufte er sich, als er Ende der 70er Jahre mit Straßen­künstlern durch Frankreich zog, gemeinsam mit Igor dem Wunder­baren und Branlotin, dem Hoff­nungslosen

Sie gaben sich aus als Abkömm­linge des verarmten slowakischen Baron Aligre, der sich ruiniert habe, als er einen Wanderzirkus aufbauen wollte. Aus dieser Zeit stammt auch der Name „Zingaro" - italienisch für Zigeuner oder Bohemien - unterdem die Truppe auftrat.

Der Durchbruch kam mit den Pfer­den. Bereits mit seinem ersten Schauspiel 1984, „Cabaret Equestre", dem Reiterkabarett, verab­schiedet sich Bartabis vom traditio­nellen Reigen der Zirkuskunst­stückchen. Gemeinsam mit Kame­len, Gänsen, Ochsen und einer seil­tanzenden Katze vollführten seine Pferde ein mittelalterliches Schel­menstück.

Seitdem bewegte sich Zingaro zu­nehmend hin zur ernsthaften künstlerischen Darbietung, in der die Musik eine immer wichtigere Kolle spielt. Sänger aus Nordafrika, Tänzer aus Kajastan, Musiker aus Japan traten in den Spektakeln auf, vereinten die Musik der Welt in bisher ungesehener Weise mit ani­malischen Ausdrucksvermögen. Mittlerweile gehört eine neue Zingaro-Inszenierung zu den Pflichtterminen bei den großen Pa­riser Feuilletons. Allzu häufig kom­men diese nicht vor, alle zwei, drei Jahre vielleicht. Pferde lernen lang­sam.


© Pascal Victor
Zwischen Pferden: Theaterchef Bartabas mit zwei Mitgliedern des Zingaro-Ensembles
Mit 'Tryptik" stellte Bartabes die Tiere vor eine besondere Heraus­forderung. Erstmals ist die Kompo­sition nicht eigens auf den Bewe­gungsablauf der Tiere zugeschrie­ben, können die Musiker nicht auf tierische Fehltritte reagieren. Das Tonbandgerät spielt Strawinskys Komposition, Pferde und Reiter dürfen ihren Einsatz nicht verpas­sen. Diesmal verlangt Bartabas choreographische Präzision. Das Erfolgsgeheimnis von Zingaro liegt dennoch nicht in einer beson­ders raffinierten Art der Dressur. Bartabes erwartet von seinen Mit­arbeitern nicht technische Perfek­tion, sondern die Bereitschaft, sich Pferden und Theater hinzugeben. „Wir sind Zingaro rund um die Uhr", erklärt Bartabes. Alle vierzig Mitglieder der Truppe leben in ei­ner Wagenburg direkt neben dem Zirkusgebäude. Pferde und Men­schen verbringen Tag und Nacht miteinander und leben derart ein wenig die Geschichten, von denen sie in der Manege erzählen. Persönliche Eitelkeiten zählen da wenig. Da schaufelt etwa eine ausgebildete Voltigeuse erst eine Sai­son lang Pferdeäpfel aus der Ma­nege und dressiert dann vier Hühner, bevor Bartabes sie für „Triptyk" zum ersten Mal vor Publikum aufs Pferd holte. Im Zweifelsfall sind die Pferde wichtiger: An den altertümlichen Wohnwagen der Artisten blättert die Farbe. Im Stall hängen ausladende Kristalllüster über den Boxen und verbreiten ein warmes Licht.

Zingaro ist kein Job. Zingaro ist eine Lebenseinstellung

Der Tod eines Pferdes gehört zu den traurigsten Ereignissen in der Gemeinschaft. Die Geschichte von „Triptyk" ist auch die Geschichte von Bartabes Lieblingspferd, ei­nem schwarzen Hengst, der eben­falls auf den Namen Zingaro hörte und seit der ersten Aufführung der Truppe immer dabei war. Er starb 1998 bei einem Gastspiel in New York. Vor allem der zweite Akt von „Tryptik" ist auch eine Hommage an diesen Hengst und eine Reflexion über die Vergäng­lichkeit, nicht immer zur Freude der Zuschauer, die harmloseren Theaterzauber erwartet haben. Schaurig schön etwa ist das Zwi­schenspiel zur Musik von Pierre Boulez. Der berühmte französi­sche Komponist schuf eigens für Zingaro sein Stück „Dialogue de l´ombre double" - Dialog des dop­pelten Schatten. Ein Klarinettist kommuniziert in dissonanten Tö­nen mit einem Echo aus der Dun­kelheit, während bleiche Kunstgerippe an Drähten durch den Raum schweben. Vergebens versucht ein tanzendes Paar, die zerschlagenen Tierkörper wieder zusammenzu­bringen, umschmeichelt fahle Pfer­deköpfe, schlägt sanft Arme und Beine um bleiche Hälse. Das ist schwere Kost für weihnachtlich ge­stimmte Zuschauer. Am Ende der Szene hört man höflichen Applaus und Protestgemurmel. Doch im Pferdehimmel wartet die Erlösung. Zu Strawinskvs heiterer Psalmen-Symphonie galoppieren im nächsten Akt sechs amazonen­hafte Frauen mit wehenden Haa­ren, in hellgrünen, rosenbestickten Roben auf weißen Pferden schwungvoll durch helles Licht. Sechs männliche Reiter auf brau­nen Tieren gesellen sich zu ihnen: Harmonie zwischen Männern, Frauen, Pferden.

Zum Klang von Kirchenglocken er­scheint in der letzten Szene der Schöpfer des Spektakels selbst. Ein Spot holt Bartabes aus der Dunkel­heit. Er sitzt auf seinem neuen Pferd Horizont, das im Rhythmus der Glocken kunstvoll auf der Stelle tänzelt. Es kommt nicht voran, aber alles geht weiter. „Zingaro wird nicht sterben", ver­sichert Bartabes. „Solange die Pferde mir was zu sagen haben, werde ich weitermachen." Und wenn nicht er, dann gibt es andere. Die nächste Generation wird schon geschult: Vor den Wa­gen der Artisten steht neben dem Sandkasten ein geblümtes Schau­kelpferdchen bereit.